Die Besucherin des Alhambra-Theaters

Von Taxifahrern erwartet man wohl am wenigsten, dass sie an okkulte Phänomene glauben und einer harmlosen Erscheinung wegen auf ihre Einnahmen verzichten. Aber dennoch gab es eine Nacht im Jahr, in der die Besucher des Glasgower Alhambra-Theaters zu später Stunde vergeblich nach einer Fahrgelegenheit Ausschau hielten. Man schrieb den 20. Mai 1964.


Das Alhambra-Theater

Berry Greene war schon seit 25 Jahren im Geschäft. Als routinierter Taxifahrer kannte er sich auf den Straßen von Glasgow so gut wie kaum ein anderer aus. Im Mai 1964 litt ganz Schottland unter einer ungewöhnlichen Hitzewelle. Diese Witterungsbedingungen führten bei ihm und seinen Kollegen zu erheblichen Einnahmeverlusten. Es hatte den Anschein, als ob die Leute selbst in der Kühle des Abends keine der zahlreichen Veranstaltungen besuchen mochten. Die Kinos und Theater waren leer wie selten, wegen der Hitze wagten sich nur wenige Menschen in eines der Theater. Auch die großen Geschäftszentren klagten über Umsatzeinbußungen. 

Am späten Abend des 20. Mai fuhr Greene einmal wieder, in der Hoffnung wenigstens einen Auftrag zu erhaschen, zwischen den Bahnhöfen hin und her. Doch ohne einen Erfolg. Irgendwann entschloss er sich die Heimfahrt anzutreten. Seine Route führte ihn direkt am Alhambra-Theater vorbei. Beim Näherkommen erblickte er eine elegante junge Dame im Abendkleid, die ihn mit einer Zeitung herbeiwinkte. Ihm fiel auf, dass die Vorstellung bereits seit einer Stunde beendet war, ein Umstand, dem er zunächst keine Bedeutung beimaß. Als die Frau einstieg, fiel sein Blick auf die Schlagzeilen der Zeitung, die sie bei sich hatte. Diese verwirrte ihn, denn in der Abendzeitung, die er gerade gelesen hatte, stand nichts von einem Dampfer, der auf der Höhe von Ushant gesunken war. Greene vermied es jedoch, darauf einzugehen, und fragte die Dame nach ihrem Fahrziel. Eine kultivierte Stimme nannte ihm eine Adresse außerhalb Glasgows, in einer Gegend mit vornehmen Häusern, sodass er eine größere Einnahme und ein gutes Trinkgeld erwarten konnte.

Die Fahrt verlief zügig und angenehm, denn alle Straßen waren wie leergefegt. Greene konnte im Rückspiegel beobachten, dass sein Fahrgast traurig aus dem Fenster schaute. Als sie schließlich ihr Ziel erreicht hatten, verlangsamte er das Tempo, um nach der Hausnummer Ausschau zu halten. Schließlich sah er das Nummernschild direkt neben dem Eingang. Er wendete und bog in die Auffahrt ein, die zu einer alten, im viktorianischen Stil erbauten, Villa führte. Das Haus wirkte aber verlassen und machte einen heruntergekommenen Eindruck. Der Rasen war wohl schon lange nicht mehr gepflegt worden und aus den Fenstern des Hauses drang kein Licht. Er parkte seinen Wagen unmittelbar vor dem Haus. Als er ausstieg, um der Dame aus dem Wagen zu helfen, erwartete ihn eine böse Überraschung. Das Taxi war leer, die Dame schien sich in Luft aufgelöst zu haben! Greene fühlte sich in seiner Menschenkenntnis arg enttäuscht, denn die Dame hatte nicht so auf ihn gewirkt, dass sie zu der Sorte gehörte, die jemanden um das Fahrgeld zu prellen versuchte. Was ihn jedoch am meisten beschäftigte, war das Rätsel ihres unbemerkten Verschwindens, wo er doch unterwegs nur ein paar Sekunden angehalten hatte. Hinzu kam, dass er das Öffnen und Schließen der Wagentür hätte hören müssen. Das einzige was ihn an die Gegenwart der Dame erinnerte, war ein Hauch von ihrem Parfüm, dass sie schon beim Einsteigen verbreitet hatte.


So luxeriös konnte man damals die Aufführungen im Alhambra-Theater genießen...

Ärgerlich schloss er die Wagentür. Er ging auf die Villa zu, denn er war fest entschlossen sich das Fahrgeld von den Angehörigen geben zu lassen. Auf der obersten Stufe angelangt bemerkte er erst, dass die Haustür und Fenster mit Brettern zugenagelt waren. Offenbar wohnte hier schon seit langem niemand mehr. Verwirrt und enttäuscht wegen des entgangenen Verdienstes fuhr Greene nach Hause. Später dachte er, die Hitze hätte ihm wohl einen Streich gespielt.

Doch schon eine Woche später sah er die junge Frau abermals vor dem Alhambra warten. Greene war diesmal fest entschlossen, dem Geheimnis ihres Verschwindens auf den Grund zu gehen. Wieder winkte sie ihm mit einer Zeitung herbei und er musste feststellen, dass sie ihn offenbar nicht erkannte. Er hielt an und ließ sie einsteigen. Erneut nannte sie ihm die gleiche Adresse wie beim ersten Mal. Nachdem sie ein paar Minuten gefahren waren, fragte Green endlich, warum sie seinerzeit nicht gezahlt habe. Sie antwortete ihm nicht und als er sich umdrehte, sah er, wie sie wieder unentwegt aus dem Fenster schaute. Er wiederholte seine Frage, erhielt aber keine Antwort.

Greene wollte sich diesmal aber nicht wieder um seinen Verdienst prellen lassen. Er beobachtete sie die Fahrt über im Rückspiegel, um sicher zu sein, dass sie vor Erreichen des Zieles nicht abspringen würde. Als er das Anwesen erreicht hatte, hielt er an, um seinen Fahrgast aussteigen zu lassen. Greene wandte sich um und traute seinen Augen nicht: die Dame war ihm wieder entwischt. Noch bevor er die Auffahrt eingebogen war, hatte er sie noch am Rücksitz gesehen!

Greene fuhr direkt zur Polizeizentrale und berichtete über das Vorkommnis. Beim Überprüfen ihrer Unterlagen stellten die Beamten fest, dass vor Jahren eine wohlhabende junge Frau auf dem Heimweg vom Alhambra einem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen war. Die Adresse, die Green genannt worden war, war die der Eltern. Nach deren Tod im Jahre 1930 wurde das Haus, da es niemand haben wollte, verschlossen und dichtgemacht.


Das P&O-Linienschiff EGYPT
 

 Der Unfall soll sich am Abend des 20. Mai 1922 ereignet haben, als die junge Frau erfuhr, dass ihr Verlobter auf See ertrunken war. Das P&O-Linienschiff EGYPT war damals in Höhe von Ushant untergegangen.

Greene sah die traurige Dame noch öfters - stets im Mai zur nächtlichen Stunde. Doch nichts konnte ihn dazu bewegen, nochmals anzuhalten. Er empfand Mitleid mit der ruhelosen Seele, die ihr Ziel wohl nie erreichen würde. 

Wir fragen uns: wird diese arme Seele noch immer im Mai vor dem Alhambra-Theater gesichtet?

 


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